Premiumwanderwege in unberührter Natur
Gleich hinter Wiesbaden fängt eine ziemlich wilde Welt an: fast unberührte Natur, die von 14 Premiumwanderwegen erschlossen wird. Die 14 Wisper Trails sind wintertauglich – und es weht dort sogar ein anderer Wind.
Manchmal knickt der Weg nach rechts oder links ab und gibt den Blick frei auf eine andere Welt. Statt in tiefen Wald schaut man plötzlich in weites Hügelland, statt knorriger, alter Bäume sind da nun Wiesen und eine alte Burgruine, und wo während der letzten Minuten nichts außer dem eigenen Atem in der Luft hing, sieht man jetzt: zwei große Krähen. Zwei große Krähen, die offenbar nichts anderes zu tun haben und deswegen miteinander spielen. Sie kabbeln sich über dem Feld, sie kreischen und krächzen, sie landen und hüpfen umeinander herum, bevor sie erneut abheben, ihre Kapriolen fliegen und hoch oben in der Luft rangeln. Irgendwann scheinen sie genug davon zu haben. Sie landen ein paar Meter entfernt im Gras und staksen einträchtig nebeneinander über die Wiese. Als sie sich kurz umdrehen, liegt etwas von „Na, da staunst du!“ in ihrem Blick.
Der Wispertaunus ist eine Gegend, in der das noch möglich ist: durch eine Natur zu wandern, die völlig unberührt erscheint. Obwohl man mit dem Auto keine halbe Stunde bis Wiesbaden benötigt, wurde das Land zwischen Rhein und Limes touristisch lange übersehen. Seit Ende 2019 gibt es nun die Wisper Trails, vierzehn Wanderwege zwischen fünf und knapp neunzehn Kilometern. Die längsten sind auch an einem kurzen Wintertag gut zu schaffen, die kürzeren passen sonntags zwischen spätes Frühstück und Nachmittagskaffee. Das Deutsche Wanderinstitut hat alle Wisper Trails als Premiumwanderwege eingestuft. Dieses Zertifikat erhalten nur Strecken, die besonders schöne Natur und einen hohen Erlebniswert bieten. Fast an allen Trails kann man sein Auto auf Wanderparkplätzen abstellen. Trotzdem ist die Gegend mit ihren tiefen Wäldern und weiten Feldern noch immer alles andere als überlaufen. Zum Glück ist das so.
Ein Morgen im Dezember, nicht mehr Herbst und noch nicht Winter, der Frost hat die ganze weite Welt zinnfarben getüncht. Bei jedem Schritt knirscht das steife Gras unter den Schuhen; hört man genau hin, klingt jeder Schritt wie feines, zerbrechendes Glas. Raureif an so einem Morgen sieht immer so aus, als wolle der Winter aus der Ferne schon mal Maß nehmen für das dickere Tuch in Weiß, das er gerne bald über das Land werfen würde. Weiter unten im Rheintal ist Schnee ja selten geworden, im Taunus aber fällt er noch. Je höher man auf den Wisper Trails unterwegs ist, desto größer ist die Chance auf verschneite Landschaften. Auf Stille und Einsamkeit sowieso.
Beim Wandern im Winter sieht man mehr. Die Vögel können sich nicht mehr in den Blättern der Bäume verstecken. Das Unterholz ist licht, man blickt tief in den Wald hinein; manchmal bemerkt man Wildschweine, bevor sie einen selbst entdecken und sich davon machen. Der Fuchs, der über das offene Feld patrouilliert, der Falke, der die Welt von einem Zaunpfahl aus observiert: Das alles bleibt in anderen Jahreszeiten meist verborgen. Die kristalline Luft und die Stille über der Welt wirken außerdem entschleunigend, die Kälte scheint die Sinne zu schärfen. Manchmal ertappt man sich dabei, wie man unvermittelt stehen bleibt und minutenlang dabei zusieht, wie Tautropfen in Zeitlupe von einem Farn fallen. Man stoppt wegen eines großen Ahornblatts, das mit seinem pelzigen Raureifüberzug vor einem auf dem Weg liegt, als habe es jemand dort drapiert. Später kniet man sich hin und streicht mit den Fingern vorsichtig über Moos – wie eine Hülle aus Samt hat es sich um die Stämme alter Bäume am Ufer der Wisper gelegt. Das schmale Flüsschen ist natürlich die Namensgeberin der Trails. Die Wisper entspringt bei Mappersheim, von wo sie über dreißig Kilometer durch den Taunus Richtung Rhein gurgelt, gluckert und plätschert und manchmal auch rauscht.
Man merkt schon: Wandern im Winter – das kann auch ein akustisches Erlebnis sein. Jede Maus raschelt im Laub, jeder Windzug lässt die dürren Äste oben in den Baumkronen gegeneinander klappern. Wenn es regnet, trommeln die Tropfen ein feines Stakkato auf die Blätter am Boden. Und manchmal weht hier sogar ein ganz eigener Wind: Im Wispertal entsteht bei Nordostwetterlagen zwischen Geroldstein und Lorch ein regelrecht kanalisierter Düsenwind. Auf dem „Rhein-Wisper-Glück“-Rundweg hoch über dem Strom hingegen liegt das Tosen des Verkehrs noch ein, zwei Kilometer lang in der Luft; sobald man aber auf den Wisper Trails durchs Hinterland wandert, sind da nur noch selten Geräusche, die der Mensch erzeugt. Die Orte hier sind klein und liegen weit auseinander. Dass man tatsächlich im 21. Jahrhundert unterwegs ist, merkt man während langer Wanderstunden nur dann, wenn hoch über einem ein Flugzeug vom Frankfurter Flughafen kommt.
Die Wisper Trails sind keine schwierigen Wege. Natürlich geht es hier und da steil hinauf und kurz darauf wieder hinunter, und natürlich ist der Weg im Winter manchmal matschig oder auch mal glatt. Man kann im Wispertaunus aber weder in klaffende Schluchten noch in Felsspalten stürzen, und verlaufen kann man sich sowieso nicht: Jeder Weg ist superb mit dem geschwungenen W-Symbol markiert, und an den meisten Gabelungen stehen Schilder mit Entfernungsangaben.
Wirkliche Kondition braucht man eigentlich nur für den Wispertaunussteig: Der ist satte 44 Kilometer lang. Im Winter schafft man die auch als absolut durchtrainierter Wanderer nur, wenn man vor Tagesanbruch loslaufen und nach Einbruch der Dunkelheit ankommen möchte, aber, ganz ehrlich: Wer will das schon? Den Wispertaunussteig sollte man im Winter einfach links liegen lassen und ihn sich für den Sommer aufheben. Dann sind die Wisper Trails schließlich auch noch da.
Infos: Wisper Trails